John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Freitag, 7. November 2014

Wolfgang Münchau vs Hans-Werner Sinn über die Volkswirtschaftslehre


Im Spiegel Online entbrannte eine Debatte über die Zukunft der Volkswirtschaftslehre. Sie begann mit einer Rechtfertigung über die ökonomische Zunft von Hans-Werner Sinn in der Süddeutschen Zeitung, Wolfgang Münchau nahm den Fehdehandschuh auf, worauf Sinn wiederum auf Spiegel Online eine Antwort erfolgte.

Die weltweite Krisis 2008 hat die Grundlagen des wirtschaftlichen Denkens erschüttert, die Euphorie über den Kollaps des Sozialismus ist abgeebbt, fallendes Wachstum und seit Jahrzehnten stagnierende Einkommen der Mittelschichten sowie, zuletzt, offensichtliche außenpolitische Überforderung rufen nach einer eher nüchternen Bestandsaufnahme und einem Paradigmenwechsel.

In einigen Aspekten erinnert die Diskussion an meine Studienzeit. Ein Lehrbuch der Politischen Ökonomie wurde faktisch nicht verwendet. Wenn man eins aufschlug, dann konnte man, Seite für Seite, teilweise Abschnitt für Abschnitt, erörtern, dass die Aussagen überholt und wissenschaftlich einfach nicht haltbar waren. Dies tat dem group think wenig Abbruch, zumal man formell und informell auf Grenzen des Denkens hingewiesen wurde. Es dauert fast noch ein Jahrzehnt, bis der gedanklichen Bankrotterklärung die staatliche erfolgte.

Soziale Wissenschaften entwickeln sich in Schulen und werden durch neue ersetzt, der Beweis ihrer Falschheit ist nicht ausreichend. Man kann auf verschiedene Aspekte in der Münchau-Sinn Kontroverse aufgeführt werden, die Möglichkeiten und Grenzen der Volkswirtschaftslehre zeigen.

Hans-Werner Sinn beschreibt in diesem Sinne sein Selbstverständnis wie folgt:

"Märkte (sind) in ihrem Ergebnis effizient, wenn vollständige Konkurrenz herrscht und die Eigentumsrechte klar geregelt sind... Wie Spürhunde suchen Volkswirte die Wirtschaft nach Marktfehlern ab und überlegen, wie man diese Fehler durch kluge Staatseingriffe korrigieren kann. Dabei gilt freilich die Regel, dass derjenige, der eine Staatsintervention fordert, den Marktfehler, den er korrigieren will, nachweisen muss. "So viel Markt wie möglich und nur so viel Staat wie nötig".

Das sieht klar und überzeugend aus. Widerspiegelt es die Realität? Einerseits ja, denn die Wachstumsperiode nach den 2. Weltkrieg brachte bisher unbekannten Massenwohlstand und das war genau die Zeit, in der die moderne Volkswirtschaftslehre entstand und ihre Modelle perfektionierte und mathematisierte.

Andererseits, nein. Werden die europäischen Bürgerkriege 1914 - 1945 und die nachfolgende Wachstumsepisode als eine Einheit gesehen, bei der institutionelle Anpassungen erfolgten und sich dann schrittweise erschöpften, dann hat die Wissenschaft die bestimmenden Charakteristika eines eher kleinen historischen Abschnitts extrapoliert. Eine mehr historische Sichtweise nimmt die gegenwärtigen Turbulenzen dann nicht mehr als Abweichung, als Krankheit, als Fehler wahr, sondern erlaubt eine differenzierte Sichtweise auf recht unterschiedliche Wachstumsphase einer Gesellschaft, wie dies auch schon in der Vergangenheit war.

Weiterhin, auch die Abstraktion vollständige Konkurrenz trifft auf einen eher kleinen und unbedeutenden Teil des wirtschaftlichen Gesamtgeschehens zu. Die großen technologischen Durchbrüche erfolgen in den USA von Monopolisten. Die gesamte Riege der Technologieunternehmen erhielt entgegen jeder reinen Marktlehre eine Anschubfinanzierung in volkswirtschaftlichen Größenordnungen. Dies trifft selbst für den letzten technologischen Durchbruch mit weitreichenden geopolitischen Folgen zu, dem Fracking. Staat oder Markt, es gilt seit mindestens 2000 Jahren das Matthäus- Prinzip, wer reich ist, bleibt in aller Regel oben in der Hierarchie.

Die Bedingungen, bei denen vollständige Konkurrenz zu Massenwohlstand führt, sind global gesehen eher beschränkt und relevant höchsten für 10 % der Weltbevölkerung, d.h. eigentlich eine Minderheit (bei der Wertschöpfung sieht es eher umgekehrt aus).

Weiterhin, es gibt keinen Markt und es gab nie einen Markt, bei denen der Staat nicht die Rahmenbedingungen vorgibt. Zuerst kommt der Zusammenhalt als politische Einheit, sei es eine Horde, ein Stamm, in der Neuzeit ein Staat oder, mit großen Übergangsproblemen, eine Staatengemeinschaft. Erst dann kommt möglicher Wohlstandszuwachs durch Handel und Austausch. Es ist weiterhin unklar, warum dem Staat als wichtigste politische Einheit das Recht abgesprochen wird, für Innovation und Wohlstand direkte Verantwortung zu übernehmen. Vor wenigen Jahrzehnten erfolgte mit dem Neoliberalismus, der Reagenomic und dem Thatcherismus eine Neuorientierung, gegenwärtig deuten viele Indizien wieder ein Pendelumschwung an. Es gibt Bedingungen, bei denen der Staat effektiv ist und es gibt Bedingungen, bei denen der Markt effektiv ist. Staat und Mark als Institutionen folgen ihrer Eigenlogik und haben eigene Dynamik von Innovationen und Reformen. Es ist schön, wenn sich Kausalitäten einfach bestimmen lassen, leider muss dies dann nicht immer richtig sein.

Was sind die praktischen Unterschiede in der Betrachtungsweise?

In seiner Antwort auf Münchau schreibt Sinn, dass es die politische Macht von Banken und Anlegern in Japan war, die notwendige Reformen verschleppten. Das kann man so sehen. Warum reicht die politische Macht von einzelnen Gruppen aber einmal aus und das andere mal nicht? Warum gibt es so große Unterschiede in Wachstumsraten, zeitlich wie geographisch? Zufall? Chaos? Weil ungenügend auf Volkswirte gehört und die Medizin nicht rechtzeitig eingenommen wird?

Vielleicht. Plausibler erscheinen mir ein anderer Erklärungsansätze. Japan hatte eine gläserne Decke erreicht und ein Wachstumszyklus ging zu Ende. Für einen neuen Zyklus wären neoliberale und marktwirtschaftliche Reformen notwendig gewesen, deren institutionelle Anforderungen und das Verhältnis von Risiko und Nutzen zu hoch waren. Das nationale politische Gleichgewicht ist beeinflusst von der Einbettung der Volkswirtschaft in die Globalwirtschaft. Die Demographie spielt eine wichtige Rolle. Wachstum ist nicht alles, der Zusammenhalt und die Identität einer Gesellschaft sind immer wichtiger als das ungewisse Spiel mit schwer zu beherrschenden Marktkräften. Japans Entscheidung hat eine gewisse Logik und vielleicht nicht zufällig lassen sich mehr und mehr Analogien zwischen der japanischen und der europäischen Stagnation erkennen.

Ungeachtet der vielen Möglichkeiten, die Volkswirte zur Wohlstandsmehrung beitragen, Politik und Politikberatung ist nur eine von vielen Einflussfaktoren auf die Dynamik und das Wachstum einer Gesellschaft.

Referenzen: 
Eine ausgezeichnete Darstellung des Beitrags von Volkswirten zur Wertschöpfung
Robert Litan: Trillion Dollar Economist: How Economist and their ideas have transformed Business. Wiley 2014. bei Amazon

Ricardo Hausmann, Lant Pritchett, Dani Rodrik erforschen Wachstums-zuwächse vom Jahr 1950 an und kommen zu dem Schluss, dass nur 14 % mit Liberalisierung im Zusammenhang gebracht werden können, also 86 % mit anderen Faktoren in Verbindung stehen.
Ricardo Hausmann, Lant Pritchett, Dani Rodrik: Growth Accelerations NBER Working Paper No. 10566 

Bill Easterly und Steven Pennings untersuchten hier (PDF) den Einfluss von Staatsoberhäuptern auf das Wachstum, wobei dieser in Autokratien naturgemäß größer als in Demokratien ist. Die Ergebnisse von 50 Jahren und 100 Länder zeigen, dass nur 2 % des Wachstums durch Einzelpersonen erklärt werden kann und somit 98 % andere Faktoren entscheidend sind.
William Easterly and Steven Pennings. How much Do leaders Explain Growth? An Excercise in Growth Accounting. New York University. 10 January 2014

PS: Heiner Flassbeck nimmt sich ebenfalls das Verständnis der wirtschaftlichen Analyse von Sinn kritisch unter die Lupe. Exzellent geschrieben und ein Vergnügen zu lesen!

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