Wir sehen die Ursachen in einem für Russland spezifischen Kosten-Nutzen-Verhältnis von Strukturreformen. Einflussfaktoren sind historische Pfadabhängigkeiten, die Art und Weise der Wechselwirkung mit der Weltwirtschaft sowie der Lebenszyklus des nationalen Wirtschaftsmodells.
Aus EU-Sicht ist eine Deeskalation der ukrainischen Krisis zu fast jedem Preis notwendig. In Russland ist eine politische Pendelumkehr absehbar nachdem die gegenwärtige nationale Euphorie abgeklungen ist.
Geschichtliches
Russland war die letzte
europäische Großmacht bei der Industrialisierung. Es befand sich – und befindet
sich de facto bis heute – im Mittelfeld der wirtschaftlichen Entwicklung. So
hat es einerseits einen deutlichen Abstand zur technologischen Grenze. Andererseits
verfügte es über eine souveräne wirtschaftliche Entwicklung und wurde nicht wie
der Rest der Welt infolge der europäischen und später US-amerikanischen
Wettbewerbsfähigkeit deindustrialisiert oder in politische Abhängigkeiten und
fragile Wachstumspfade gedrängt.
Der vielleicht wichtigste Einzelfaktor für die Entwicklung Russlands ist die geographische Ausdehnung. Ähnlich wie die Insellage
Englands bot sie militärischen Schutz. Sie ermöglichte das ungestörte „Sammeln der
russischen Erde“ im 19. Jahrhundert. Das Zarenreich bildete innere Kolonien, auch wenn diese längst nicht so ertragreich waren wie die Karibik nach den Großen Geographischen Entdeckungen.
Historisch wurde nach dem Durchbruch zur Industrialisierung die Größe des Binnenmarktes ein wichtiger Entwicklungsfaktor. Deutschland überholte England, ab 1870 waren die USA die größte Volkswirtschaft. Auch Russland profitierte von seinem enormen Binnenmarkt, der dazu durch schlechte Transportbedingungen von den Weltmärkten weitestgehend geschützt war. Skaleneffekte setzten ungehindert ein. Trotz relativer technischer Rückständigkeit brachen Konzentrationsgrad und Zentralisierung in der Industrie alle weltweiten Rekorde. Die damit verbundenen Produktivitätssteigerungen in der Industrie kontrastierten mit einem rückständigen, feudal geprägten Land. Nach dem ersten Weltkrieg konnte der absolutistische Staat die unterschiedlichen Impulse aus industrieller Hypermodernität und agrarischer Rückständigkeit nicht mehr vermitteln und zerbrach in Krieg und Bürgerkrieg.
Historisch wurde nach dem Durchbruch zur Industrialisierung die Größe des Binnenmarktes ein wichtiger Entwicklungsfaktor. Deutschland überholte England, ab 1870 waren die USA die größte Volkswirtschaft. Auch Russland profitierte von seinem enormen Binnenmarkt, der dazu durch schlechte Transportbedingungen von den Weltmärkten weitestgehend geschützt war. Skaleneffekte setzten ungehindert ein. Trotz relativer technischer Rückständigkeit brachen Konzentrationsgrad und Zentralisierung in der Industrie alle weltweiten Rekorde. Die damit verbundenen Produktivitätssteigerungen in der Industrie kontrastierten mit einem rückständigen, feudal geprägten Land. Nach dem ersten Weltkrieg konnte der absolutistische Staat die unterschiedlichen Impulse aus industrieller Hypermodernität und agrarischer Rückständigkeit nicht mehr vermitteln und zerbrach in Krieg und Bürgerkrieg.
Kontinuität und Modernisierung in der Sowjetunion
Im entstandenen Machtvakuum setzten
sich die Kommunisten mit einem planwirtschaftlichen Gesellschaftsentwurf knapp durch.
Nach einer Experimentierphase mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ in den
1920-er Jahren setzten sie auf eine umfassende von-oben induzierte, nachholende Industrialisierung des Landes. Faktisch erschöpfte sich damit auch
der Modernisierungsimpuls. Extensives Wachstum setzte ein. Strukturinnovationen fanden bis 1990 de facto nicht statt. Bis
zum Untergang des Landes wurden Produkte und Technologien durch neue
Fabriken eingeführt, institutionelle Reformen und Restrukturierungen waren im System schlicht nicht
vorgesehen. Bei der Implosion der Sowjetunion 1990 hatte das Land nach den
Maßstäben der 1930-er Jahre die vielleicht effizienteste Volkswirtschaft auf
der Erde, die aber nach den Kriterien der 1990-er Jahre genauso hoffnungslos
veraltet war.
Als Wirtschaftsmodell erreichte
das sowjetische Gesellschaftsmodell seinen Höhepunkt in den 1960-er Jahren. Der Verzicht auf
rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Institutionen setzte umfangreiche
Ressourcen frei, die den Kalten Krieg mit den wirtschaftlich weit überlegenen
USA und ihren Verbündeten finanzierte und jahrzehntelang eine gesellschaftliche Alternative zur Marktwirtschaft und Demokratie bot. Dazu gehörte auch die Subvention von
technischen Höchstleistungen wie die Raumfahrt, die wenig Einfluss auf die
Wertschöpfung des Landes nahm, aber sich der politischen Logik des Kalten
Krieges und der nationalen Identitätssuche als Alternative zum Kapitalismus beugte. In den 1970-er Jahren wurde steigender Wohlstand durch
den beginnenden Export von Energieträgern gesichert. Die 1980-er Jahre gingen
als die Stagnationsperiode in die Geschichte ein.
Der politische Zyklus Jelzin-Putin 1990 – 2017 (?)
Wie 1917 begann ein neuer
politischer Zyklus 1990 mit einem weitgehenden Staatszerfall und einer Reformphase
von Versuch und Irrtum. Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, mussten neue Institutionen
aufgebaut und Verbindungen geknüpft werden. Einen Marshallplan oder auch nur einen Schuldenverzicht durch die westliche Welt gab es nicht. Das unausweichliche Resultat war ein beispielloser Rückgang
der Wirtschaftsleistung in Friedenszeiten. Auch in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern konsumierte der
Übergang zur Marktwirtschaft etwa zehn Jahre der wirtschaftlichen Entwicklung, in Deutschland wurde ein Break-even bei den Steuereinnahmen 1992 erreicht.
Eine einfache Quelle der
Integration in die Weltmärkte bot der Export von Rohstoffen und Energieträgern.
Eine Folge des extensiven Wachstumsmodells aus vergangenen Zeiten war, dass zum
Ende der Sowjetunion der Wert der geförderten Rohstoffe und Energieträger nach
Weltmarktpreisen das nationale BIP um das Doppelte
überstieg. Die Integration in die Weltmärkte bot der neuen russischen
Unternehmerschaft wie auch ihren westlichen Abnehmern ein beispielloses
Kosten-Nutzen-Verhältnis. Dies war die Geburtsstunde der Oligarchen und ihres
über Nacht entstandenen Reichtums.
Mit dem Staatsbankrott
1998 und der ersten Präsidentschaft Puntins setzte ein Wendepunkt ein. In der
innenpolitischen Auseinandersetzung konnten die Eliten aus den
Geheimdiensten und paramilitärischen Strukturen (силовики) der wirtschaftlichen Macht der Oligarchen die Stirn
bieten. Chodorkowski, der eine rote Linie in der Politik und beim Ausverkauf von
strategischen Ressourcen in den Westen überschritt, wurde enteignet.
Der Anstieg der Erdölpreise von 10 USD auf 140 USD
je Barrel verhalf dem Staatshaushalt zu unverhofften Einnahmen. Ein
Wirtschaftsaufschwung begann, der Staat konsolidierte sich auf neuer Grundlage. Russland erlebte eine
goldene Phase seiner Entwicklung. Die Reallöhne stiegen um bis das Zehnfache
(!). Umfangreiche soziale Leistungen konnten finanziert werden und verschiedene
Modernisierungen wurden in Angriff genommen.
Zugleich werden die
Grenzen des Geschäftsmodells sichtbar. Der Rohstofffluch prägt das Geschehen:
Im Vergleich mit dem lukrativen Export von Energieträgern ist das
Kosten-Nutzen-Profil von institutionellen Reformen anspruchsvoll. Weder
bestehen Erfahrungen, Traditionen und Mentalitäten, auf die man aufbauen könnte, noch
politische Unterstützung in der Form einer kritischen Masse an reformorientierten Unternehmern. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedroht das bestehende
Geschäftsmodell und die Gruppe von Geschäftsleuten um Putin
ohne eine positive Alternative zu bieten. Wie überall in der Welt ist im politischen
Parallelogramm ausbleibendes Wachstum aufgrund verschleppter Strukturreformen
ein geringeres Übel als der Verlust an bestehenden Pfründen. Strukturreformen bleiben bis heute aus
und damit ist Wachstum mehr und mehr limitiert.
Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport steigt seit 1998. Es gibt wenig Anreize, sich um Kooperation und Zusammenarbeit zu bemühen. Das folgende Diagram visualisiert den Zusammenhang zwischen Ölreichtum und Kooperationsorientierung (unbalanced globalization of oil-rich states).
Quelle, KOF Index of political globalization
Es ist ein Puzzlestück des komplexen Ganzen, das verdeutlicht, wie wirtschaftlichen Realitäten, die im Westen Wohlstand und Stabilität schaffen, in Russland eine völlig andere Rationalität haben.
Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport steigt seit 1998. Es gibt wenig Anreize, sich um Kooperation und Zusammenarbeit zu bemühen. Das folgende Diagram visualisiert den Zusammenhang zwischen Ölreichtum und Kooperationsorientierung (unbalanced globalization of oil-rich states).
Quelle, KOF Index of political globalization
Es ist ein Puzzlestück des komplexen Ganzen, das verdeutlicht, wie wirtschaftlichen Realitäten, die im Westen Wohlstand und Stabilität schaffen, in Russland eine völlig andere Rationalität haben.
Das russische Geschäftsmodell hat
seinen Höhepunkt überschritten. Ein Aufbegehren der urbanen Mittelschichten im
Dezember 2012 konnte schnell unterdrückt werden. Der Staat reagiert zunehmend
autoritär. Ausländische Hilfsorganisationen wurden verboten, Repressalien
gegen Minderheiten verschärft. Der ehemalige Reformer und Demokrat Putin hatte
sich grundlegend gewandelt und folgt damit zahllosen Vorbildern in autoritären Regierungsformen.
In diesem Kontext kann
eine Logik im Verhältnis zur Ukraine gesehen werden. Nach einer Vielzahl von außenpolitischen Niederlagen reizt Putin die ihm zur
Verfügung stehenden Machtmittel aus, selbst wenn sie negativer Natur sind und
langfristig die Reputation und die Wirtschaft des Landes unterminieren. Russland hat kein attraktives Wirtschaftsmodell für die Ukraine, aber infolge der engen Verflechtung mit dem Brudervolk hat es ein informelles Vetorecht und kann
jede ungewünschte Entwicklung verhindern.
Mit dem Abenteuer Ukraine
entzündete Putin ein politisches Strohfeuer, die das kommende Ende seiner
Präsidentschaft einleitete. Im komplexen Geschehen der russischen Politik ist
sein politisches Überleben keineswegs sicher. Noch ist seine Popularität ein Schutzschild. Sobald sich die Lage beruhigt hat werden die Unzulänglichkeiten
seines Gesellschaftsmodells zutage treten. Dann wird in einem neuen politischen
Zyklus erneut ein Fenster der Möglichkeiten für Strukturreformen bestehen. Ein tiefer Blick in die Glaskugel gibt einen Zeitraum von drei Jahren bis zu einem politischen Umschwung mit dem Entstehen eines neuen Wirtschaftsmodells.
Ausblick: Wie soll die EU reagieren
Fast möchte man meinen,
dass der Westen in eine politische Falle geraten ist und sich beim Engagement
in der Ukraine weit unter Wert verkauft hat: Die Ukraine steht vor dem
Staatszerfall und ist für erfolgreiche marktwirtschaftliche und demokratische
Reformen auf absehbare Zeit zu schwach. Über ihr schwebt das russische Damoklesschwert von erratischen Handlungen, eine beispiellose staatstragende Propaganda und ein Hurra-Patriotismus, der schon längst überwunden schien.
Die EU ist mit internen Reformen beschäftigt. Mit dem Assoziierungsabkommen hat sie den
handwerklich ungeschickten Versuch unternommen, den eigenen Einflussbereich
ohne die erforderlichen Investitionen auszubauen. Für die Perspektive einer ukrainischen EU - Mitgliedschaft - der einfachste Weg der staatlichen Stabilisierung – fehlen die Mittel, die politische Entschlossenheit und die institutionelle Reife. Die EU hat, einfach gesagt, ihren geopolitischen Einflussbereich überdehnt und sollte nun Schadensminimierung betreiben.
Für die USA scheint sich das Engagement in der Ukraine in die Reihe der glücklosen Interventionen einzufügen, die vom Irak und Afghanistan zu Syrien und der Staatsgründung im Südsudan reicht.
Für die USA scheint sich das Engagement in der Ukraine in die Reihe der glücklosen Interventionen einzufügen, die vom Irak und Afghanistan zu Syrien und der Staatsgründung im Südsudan reicht.
Umso wichtiger ist es, auf
die Provokationen der russischen Seite angemessen zu reagieren, umfassend Deeskalation
zu betreiben und einen langfristige Sicht auf die gegenwärtigen
Zuspitzungen zu bewahren.
Das westliche Wirtschaftsmodell hat viele Vorteile. Dazu gehört die Fähigkeit zu lernen, ohne dass dabei ein ganzer Staat in den Abgrund gerissen wird, Grenzen des eigenen Einflusses anzuerkennen und Ideologie nicht mit Realpolitik zu verwechseln. Russland modernisiert und entwickelt sich seit über 150 Jahren in einer eigenen Dynamik, die beeinflusst, aber nicht vorgeschrieben werden kann. Dies gilt es zu akzeptieren.
Update 7. Mai 2014
New Republic weist zu Recht darauf hin, dass "Trying to win the Ukraine could lead to its collapse", da Staatszerfall immer das größter Übel ist. Hat Europa zu wenig Erfahrung in der Geopolitik? Hier verweist sie darauf, dass die kommenden Wahlen am 25. Mai zunehmend irrelevant werden.
"The New Yorker" antwortet nicht auf die Frage: "Is Vladimir Putin a rational actor?"
Das oben skizzierte Verständnis Russlands folgt die „Foreign policy“ in „Kicking Putin off the Island“und thematisiert die Möglichkeiten des Westens in einer Nach-Putin-Ära, auch wenn sie in den vergangen 14 Jahren weniger eine innere Logik als verpasste Chancen sieht.
Update 7. Mai 2014
New Republic weist zu Recht darauf hin, dass "Trying to win the Ukraine could lead to its collapse", da Staatszerfall immer das größter Übel ist. Hat Europa zu wenig Erfahrung in der Geopolitik? Hier verweist sie darauf, dass die kommenden Wahlen am 25. Mai zunehmend irrelevant werden.
"The New Yorker" antwortet nicht auf die Frage: "Is Vladimir Putin a rational actor?"
Das oben skizzierte Verständnis Russlands folgt die „Foreign policy“ in „Kicking Putin off the Island“und thematisiert die Möglichkeiten des Westens in einer Nach-Putin-Ära, auch wenn sie in den vergangen 14 Jahren weniger eine innere Logik als verpasste Chancen sieht.