John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Mittwoch, 13. November 2013

Das chinesischer Wirtschaftswunder oder die Suche nach dem Heiligen Gral


Chinas Wirtschaftswunder ist mit fast zweistelligen Wachstumsraten über 30 Jahre beispiellos. Von 2.2 % der globalen Wirtschaftsleistung im Jahre 1980 hat es inzwischen fast 20 % erreicht. Das Land hat 680 Millionen Menschen aus extremer Armut befreit und einen relevanten Beitrag zu den Millenniumszielen geliefert. Das Pro-Kopf-Einkommen Chinas beträgt inzwischen 6000 USD PPP je Einwohner, 17 Städte mit mehr als 3 Millionen Einwohnern (etwa 11 % der Gesamtbevölkerung) haben die Schwelle zu einem Hochlohnland überschritten (12 616 USD nach der Klassifikation der Weltbank). Zusammen mit den USA (Chimerica) ist China eines der Motoren des globalen Wachstums und Quelle von Wohlstandssteigerung wie die weltweit gesunkene Inflationsrate. Mit der Integration vom Millionen von Arbeitskräften in den Weltmarkt hat es die Balance zwischen Arbeit und Kapital global verändert.

Nun mehren sich die Anzeichen, dass sein export-, arbeits-, investitions- und umweltintensives Wirtschaftsmodell mit einem Fragezeichen versehen wird.  Probleme akkumulieren sich schneller als Möglichkeiten. Seien es menschenleere Geisterstädte, Umweltschäden, die bis zu 9% des Wirtschaftsleistung kosten, ein abnehmendes und alterndes Arbeitskräftereservoir und steigende Lohnkosten, zunehmender politischer Widerstand auf den internationalen Märkten oder die Reindustrialisierung des Westens. Der Höhepunkt der Lebenskurve des chinesischen Wirtschaftswunders ist überschritten. Der Konsens im In- wie im Ausland ist einmütig: China braucht ein neues, ein konsum- und servicegestütztes Wachstumsmodell, um seine Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Die chinesische Führung stellt sich der Herausforderung, sucht aktiv den Dialog. Denkschulen, Organisationen und Wissenschaftlern beteiligen sich an der Diskussion. Kaum eine Woche, dass nicht ein neues Buch erscheint. Die Suche nach den richtigen Reformen, die diesen Übergang ermöglichen und die Fortsetzung des hohen Wachstums garantieren, entwickelt sich zum heiligen Grad der wirtschaftlichen Analyse.

Die häretische Frage ist: Gibt es ein solches neues Wachstumsmodell? Können wir mit ausreichender Sicherheit ein vergleichbares Kosten-Nutzen-Verhältnis für ein neues Wachstumsmodell voraussetzen? Ist weiteres Wachstum möglich, dass China zur größten Wirtschaftsmacht werden lässt, dass sich in wenigen Jahrzehnten, gleichsam im Durchmarsch, von einem Entwicklungs- zu einem Hochlohnland, zu einer Wissens- und Serviceökonomie entwickelt? Ist China anders als der Rest der Welt, die viele Anläufe, Jahrzehnte an politischen Reifeprozessen, Strukturkrisen und Reformen benötigt und dabei doch nur eine gemischte Erfolgsbilanz aufweist?

Die Annahme ist weit geteilt, dass dies möglich ist. Stellvertretend kann auf das IMF verwiesen werden, das Wachstum von durchschnittlich 6 % prognostiziert, wenn die richtigen Reformen umgesetzt werden. Siehe auch Goldmann Sachs oder die  OECD. Selbst Präsident Barak Obama thematisierte den Aufstieg Chinas als eine der "offensichtlichen" Herausforderungen der USA (hier und hier).

Ein alternatives Narrativ ist, dass das bisherige chinesische Wachstumsmodell ein besonderer historischer Glücksfall war und ein neues, vergleichbares Modell vielleicht nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich ist. Zwar sind politische Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden, sie dürfen aber nicht überschätzt werden. Das chinesische Wachstumsmodell ist im Auslaufen begriffen (Paul Krugman), der Lewis-Punkt ist erreicht, nun folgt nolens volens ein Tränental.

Was sind die Besonderheiten des bestehenden Modells? Erfolgsfaktor ist das spezifische Zusammenspiel von äußeren und inneren Faktoren, die Einbettung in die internationale Arbeitsteilung im Zusammenwirken mit der nationalen Wirtschaft. Stark vereinfacht stellt China seine Arbeitskräfte ausländischen, vorwiegend US- Unternehmen für globale Märkte zur Verfügung (Walmartisierung), die bei geringer Wertschöpfung bis zu 80 % des Exports kontrollieren. Der amerikanische Markt ist offen, weil der Nutzen für die USA entgegen aller Rhetorik über manipulierte Währungskurse hoch ist. Das Außergewöhnliche des chinesischen Modells ist die hohe Globalisierungsdividende für das nationale Wachstum. Sie hat eine Katalysatorrolle für einen sich seit Jahrzehnten selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung und verbindet in einer besonderen Art und Weise den Staat und das Machtmonopol der kommunistischen Partei mit der Bereitstellung einer öffentlichen Infrastruktur, dem Funktionieren von staatlichen Großunternehmen und einem dynamischen privaten Sektor.

Die Herausforderung ist, dass institutioneller Reformbedarf bei allen Elementen des bisherigen Modells besteht, die Gesellschaft aber nur dann einen überdurchschnittlichen Wachstumskurs erreicht, wenn sie – wie bisher – optimal zusammen wirken. Dies kann an drei Komponenten näher beschrieben werden.

Innere Faktoren: Marktwirtschaftliche Reformen wie Rückzug des Staates und Stärkung der Eigentums- und Investorenrechte sind notwendig, dürfen aber nicht zu sehr zu Lasten des Staatssektors gehen, um politische Instabilitäten zu vermeiden. Keiner weiß, wo die richtige Balance ist. Vor 30 Jahren wurden die notwendigen institutionellen Innovationen durch regionale Experimente herausgefunden. Kann dies wieder gelingen? Ein aktiver Such- und Findungsprozess findet statt, der aber bisher eher dem alten Modell verhaftet ist, wie die Verlagerung von Aktivitäten aus den boomenden Küstenregionen in das Landesinnere oder die Eröffnung der Shangheier Freihandelszone.
Die öffentliche Infrastruktur weist Modernisierungsinseln auf (Schnellzüge, Flug- und Seehäfen, Raumfahrtprogramm), die an weiße Elefanten erinnern und ihre Kosten nicht einspielen können. In der bisherigen Logik waren sie politisch wie wirtschaftlich sinnvoll. Im neuen Wachstumsmodell müssen die Rechnungen auf diese oder jene Art und Weise bezahlt werden. Das Verhältnis der arbeitsfähigen Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung hat sein Maximum überschritten, China wird alt, während es arm bleibt.
Das Monopol der kommunistischen Partei verfügt trotz jahrzehntelanger Verkrustungen über eine hohe Legitimität. Sollten Veränderungen unumgänglich sein, so ist hoher politischer Druck erforderlich, was unweigerlich die wirtschaftliche Dynamik über einen längeren Zeitraum beeinflusst.
Äußere Faktoren: China verdankt einen Exportschub zu Beginn der Nuller Jahre der Mitgliedschaft im WTO, seither ist es von regionalen Handelsabkommen ausgeschlossen, wie dem Trade in Service Abkommen, das Trans-Pazifische Handelsabkommen und das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen. Am Beispiel der US-Kongressanhörungen zur Währungsmanipulation verfügen die USA über ein flexibles Instrument, Nutzen und Kosten der Zusammenarbeit mit China stets neu zu überprüfen und, falls erforderlich, anzupassen. 



Globale Arbeitsteilung: Mit dem Aufschwung Chinas verbindet sich eine Neudefinition der globalen Arbeitsteilung. Industrieproduktion wanderte in Schwellen- und Entwicklungsländer. Die Wertschöpfung verblieb weitestgehend im Westen und finanziert den Übergang zur Wissensgesellschaft. Informations- und Biotechnologien und potentielle innovative Durchbrüche wie das 3-D-Drucken werden die Dynamik der globalen Arbeitsteilung wieder beeinflussen. Es ist unklar, ob China wiederum ein Angebot machen kann, dass von den Weltmärkten als gewinnbringend akzeptiert wird. 

Plausibler erscheint – auf mittelfristiger Sicht - ein anderes Szenario: trotz aller politischen Bemühungen sinkt die Effektivität des bestehenden Modells und Versuche, neue, ergiebige Wachstumsquellen zu erschließen, misslingen. China entdeckt Alternativen zur bestehenden kompromisslosen Wachstumsorientierung und holt strukturelle Versäumnisse nach. Eine langjährige japanische Wachstumspause ist nicht ausgeschlossen. China wird normal werden und keine Projektionsfläche für einen Gral unendlicher wirtschaftlicher Dynamik bieten.

Update 1:
Eine vergleichbare historische Sicht hat Josef Joffe in: „China’s Coming Economic Slowdown“, The Wall Street Journal und in seinem neuen Buch "The Myth of America's Decline" (Amazon)

Update 2: 
 Lant Pritchett und Lawrence Summers von der Harvard University untersuchen Chinas Wachstumsdynamik: "Asiaphoria Meet Regression to the Mean". Sie kommen mit statistischen Methoden zu den folgenden Schlußfolgerungen: "China’s super-rapid growth has already lasted three times longer than a typical episode and is the longest ever. The ends of episodes tend to see full regression to the mean, abruptly." (Seite 34). 

Update 3: Der "The Economist"  lädt dazu ein vorherzusagen, wann China die USA überholt und weist in seinem special report auf verschiedene Ungleichgewichte hin. Ein Beispiel: Die 50 reichsten Mitglieder des chinesischen Nationalen Volkskongress sind um den Faktor 50 (!) reicher als ihre Kollegen im US Kongress. Dies wirkt sich auf Reformeifer und Reformrhetorik (siehe eine Analyse hier) aus. Bei den Munkdebates sehen 62 % der Teilnehmer kein chinesisches 21. Jahrhundert.  

1 Kommentar:

  1. "...vorherzusagen, wann China die USA überholt..."

    Nicht länger nötig:
    http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/05/03/china-ueberholt-usa-als-nummer-eins-der-weltwirtschaft/

    ...eine Lehre, die ich aus der Geschichte ziehe: "Imperien" zerbrechen an ihrem schieren "Größenwahn". Boomerities als krankhaftes Wachstum verleitet dazu äußere und innere Grenzen zu überdehnen. Übertreibungen werden so oder so durch die Konfrontation mit nachhaltiger wirkenden Realitäten korrigiert. Übertriebene Beschleunigung beim Wachstum ähneln dem Krebswachstum. Parasitär wirkender Krebs zerstört zwar (relativ geschlossene) Systeme. Allerdings um den Preis der Selbstvernichtung durch eintretenden "Nahrungsmangel".

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