John Maynard Keynes

The analysis was in terms of a single national economy. What is desperately needed now is a rewrite in terms of the world economy." (John Maynard Keynes's General Theory of Employment, Interest and Money, 1936)

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Die Ukraine im Niemandsland zwischen der EU und Russland


Die Ukraine im Niemandsland zwischen EU und Russland

Verschärft durch eine schwere Wirtschaftskrise und einen drohenden Staatsbankrott begann am 21. November 2013 auf dem Euromaiden in Kiew die größte Protestbewegung seit der Orangen Revolution. Die Auseinandersetzung wird nicht selten als ein Ringen über den politischen Kurs der Ukraine zwischen den Alternativen EU und Russland dargestellt. Nach dem Aussetzen eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU erzeilte die ukrainische Regierung ein Abkommen mit Russland, dass Investitionen in ukrainische Staatsanleihen in Höhe von 15 Milliarden USD vorsieht und den Preis für russisches Gas von 430 USD pro 1000 Kubikmeter Gas auf 268,5 USD senkt. Aber der abrupte Meinungswechsel kann nur bedingt als eine strategische Richtungsentscheidung interpretiert werden. Die folgende Analyse wirft einen Blick auf die komplexen Paradoxien, Widersprüche und die Eigendynamiken im Wechselverhältnis von Ukraine, Russland und der EU.

Die Ukraine
Als noch junger Staat steht die Ukraine vor einer doppelten historischen Herausforderung: Aufbau eines eigenen Staates und effektive Integration in die internationale Arbeitsteilung. 

Quelle
Die Nationenbildung ist ein oft unterschätzter Faktor, der in Europa mit einem hohen Blutzoll bis ins 20. Jahrhundert stattfand. Versuche der internationalen Gemeinschaft die Nationenbildung in Staaten wie Afghanistan, Jemen oder Somalia zu unterstützen, zeigten geringe Resultate. Jared Dimond sieht in der unterschiedlichen Dauer von Staatlichkeit die wichtigste Ursache für Unterschiede im wirtschaftlichen Entwicklungsniveau. Die Institutionen in der Ukraine sind notorisch schwach[1] und verfügen über ein nur wenig belastbares Gleichgewicht zwischen Funktion und Innovation. Die Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner für kohärentes Handeln zu finden, betrifft die geographische Teilung genauso wie die politische Polarisation, die Fragmentierung der Eliten oder die Dominanz von Partikularinteressen. Nauro Campos sieht hier die eigentliche Ursache für die politische Zuspitzung.

Nicht minder komplex ist der Aufbau einer modernen Marktwirtschaft. Alle postsozialistischen Länder waren zu Beginn mit einem institutionellen Vakuum konfrontiert und mussten viele Jahre in den Aufbau der Fundamente ihre Wettbewerbsfähigkeit investieren bis sie wieder die Leistungskraft vom Beginn des Reformprozesses erreichten. Im Unterschied zu anderen Ländern konnte die Ukraine kein überzeugendes Modell der Integration in die Weltmärkte identifizieren. Weder knüpfte sie erfolgreich an die Traditionen der Hanse an wie der Baltikum, noch konnte sie bedeutende Investitionen für den Aufbau eines Cluster von Informationstechnologien gewinnen wie Estland, oder profitierte vom globalen Rohstoffboom wie Russland oder nahm am europäischen Einigungsprozess teil wie die vier westlichen Nachbarn. An marktwirtschaftlichen Reformwillen fehlt es der Ukraine oft nicht. Nach einer Aufholphase zu Beginn der Nullerjahre sanken die Wachstumsraten. Im globalen Kontext verfügen die traditionelle Stärken im Maschinenbau, der Schwerindustrie und der Erdölverarbeitung über eine hohe Vulnerabilität gegenüber exogenen Schocks und ihre niedrige Wertschöpfung erreicht keine kritische Größe für eine nachhaltige Wachstumsdynamik aus. Heute entstehen allein 5,2 % des BIP (9,1 Mrd. USD) durch Transfers aus dem Ausland.

Die Dysfunktionalität der staatlichen Institutionen und die Korruption im politischen System ist ein Hinweis, dass Zugriff auf bestehende Cash Flows (rent-seeking) einen sicheren und risikoärmeren Wohlstand verspricht als die Alternativen. Ungeachtet der häufigen und oft auch demokratischen Machtwechsel seit der Unabhängigkeit reichen die  Schätzungen zur Bereicherung der Janukowitsch Familie von mehreren Millionen Euro bis zu 10 Milliarden USD jährlich.

Vor diesem Hintergrund ist der IMF nicht bereit, weitere Kredite ohne Bekämpfung der Korruption und die Kürzung von Subventionen zu gewähren. Auch die EU sieht sich nicht in der Lage, sich in den geforderten Dimensionen zu engagieren. „Wir zahlen nicht“, sagt der französische Präsident Hollande.

Russland
Nach 1917 – 1991 schreibt Russland an einem weiteren polit-ökonomischen Zyklus. Die Jelzin – Jahre waren eine Sturm-und-Drang Zeit, deren wilde marktwirtschaftliche Experimente 1998 im Staatsbankrott endeten. Mit der Machtübernahme Putins verbindet sich eine Renaissance der russischen Staatlichkeit. Historisches Glück half bei der Stabilisierung. Ein globaler Superzyklus bei Rohstoffen und Energieträgern finanzierte einen für die russische Geschichte außergewöhnlichen Wirtschaftsboom. Russland verdreifachte innerhalb von 15 Jahren sein BIP, verteilte soziale Wohltaten und erlebte mit zweistelligen Zuwachsraten bei den verfügbaren Einkommen eine goldene Phase in seiner Geschichte.

Wie auch in China im Jahre 1979 unter Deng Xiaoping folgen die institutionellen Veränderungen nicht einer Folge, die linear zur Ausweitung von Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit führt, sondern einen spezifischen Eigenlogik. In Russland standen zur Abwägung die Wohlstandssteigerung durch die Optimierung des Exports oder die Einleitung von riskanten institutionellen Reformen in Richtung eines westlichen Gesellschaftsmodells. Es setzte sich ein staatskapitalistisches Modell durch, eine Modernisierung und Evolution der autoritären Regierungsform, die unmittelbar an bestehende institutionelle Prägungen, Werte und Mentalitäten der vergangenen Planwirtschaft anknüpft und unter neuen Bedingungen die Kontinuität mit der Vergangenheit wahrt.

Der Preis für diesen vorerst so erfolgreichen Entwicklungspfad ist hoch. Die Mechanismen der holländischen Krankheit und des Ressourcenfluches beeinflussen die wirtschaftliche Logik. Sie verschieben die Präferenzen zugunsten der risikoarmen Wertschöpfung aus Rohstoffförderung und zuungunsten der aufwändigen, wenn auch nachhaltigen Wertschöpfung aus Wettbewerbsfähigkeit. Die Abhängigkeit vom Energie- und Rohstoffsektor nahm zu, marktwirtschaftliche und demokratische Reformen wurden eingefroren oder rückgängig gemacht. Korruption und Rechtsunsicherheit weiteten sich aus. Seit 1990 beträgt die Kapitalflucht 800 Mrd. USD. Jährlich stimmen 300.000 meist gut ausgebildete Russen mit den Füßen ab und verlassen das Land. Ein demokratisches Aufbegehren der urbanen Mittelschichten im Dezember 2012 blieb Episode.

Als Folge erweist sich das Erschließen von neuen Wachstumsfeldern als zunehmend schwierig. Staatlich initiierte Modernisierungen entgegen der Export- und Rohstofforientierung erreichen nicht die angestrebten Resultate. Dies betrifft auch die Modernisierungspartnerschaft mit Deutschland. Impulse von den Weltmärkten bleiben aus, denn die Preise für Russlands Exportgüter stagnieren oder sinken, nicht zuletzt durch Innovationen wie das unkonventionelle Gas. Die Indizien mehren sich, dass der Höhepunkt des Putinschen Geschäftsmodells überschritten ist. 2013 liegt das Wachstum unter 2 %. Die Repressionen und Manipulationen der letzten Jahre sind Ausdruck der Fragilität des bestehenden Gesellschaftsvertrages, nicht der Stärke des Staates. Das gegenwärtige Russland nimmt Züge der Stagnation unter Brezhnew in den 1980-er Jahren an. Nicht auszuschließen ist ein „Schwarzer Schwan“, ein plötzlicher Umschwung der politischen Situation, der zur Implosion des scheinbar fest gefügten Putinschen Systems führt. Es ist die vielleicht ausschlaggebende strukturelle Schwäche von autoritären Regierungsformen gegenüber der Demokratie, dass ein unausweichlicher Austausch von Eliten einen hohen Preis hat, der vorangegangene wirtschaftliche Errungenschaften ganz oder teilweise konsumiert. Für die Ära Putin bedeutet dies, dass erst mit seinem politischen Abgang der 1991 begonnene Reformzyklus endet und das Tor zu einer neuen Welle an systemischen Reformen, zu einem neuen polit-ökonomischen Zyklus geöffnet wird.

Außenpolitisch hat Russland wie England in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die realen Phantomschmerzen einer vergangenen Supermacht. Missgriffe des Westens und seine geringe wirtschaftliche Dynamik der letzten Jahre ermöglichten dessen ungeachtet beeindruckende Erfolge (Snowden, Syrien, Iran). Zwar kann Russland im Vergleich mit der EU der Ukraine keine langfristig attraktive Zusammenarbeit anbieten, aber im bestehenden politischen Koordinatensystem erweitert Russland seine Optionen und sichert Einfluss. Das Abkommen konsolidiert das außenpolitische Umfeld und verschiebt so das für Putin unkalkulierbare Risiko von Systemreformen.

Die Europäische Union
Die Europäische Union durchläuft gegenwärtig die größte Restrukturierungsphase seit ihrer Gründung. Der Höhepunkt der Krise scheint überschritten, auch wenn ein Auseinanderfallen der Eurozone noch nicht vollständig ausgeschlossen ist. Die Suche nach einem stabilen institutionellen Gleichgewicht, das die erheblichen Leistungsunterschiede souveräner Staaten effektiv ausgleicht, hat einen Höhepunkt erreicht. Einige Innovationen wie der „Offene Dialog“ oder der Stabilitätspakt sind vom Tisch, andere, wie das Überwachen der Haushalte oder die Bankenunion, befinden sich in der Design- und Experimentierphase. Vom Optimismus einer Lissabonner Agenda, als Europa im Jahre 2003 sich das Ziel stellte, zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt aufzusteigen, ist man weit entfernt.

Vor 2008 war ein EU-Beitritt für die Staaten Ost- und Mitteleuropas die Schnellstraße zur Integration in den weltweit größten Wirtschaftsraum und der Teilhabe an Demokratie und Wohlstand. Er wirkte als institutioneller Anker[2]. In der Tat erzielten die neuen EU-Mitgliedsländer höhere Wachstumsraten als der EU-Durchschnitt, nicht zuletzt aufgrund von umfangreichen Transfer- und Unterstützungsleistungen. Mit der Krise 2008 änderte sich das Bild, die EU Kernländern sind seither wirtschaftlich erfolgreicher als die Peripherie. Die Beitrittsländer aus Ost- und Mitteleuropa stehen vor der Herausforderung, neue Treiber jenseits des bisherigen kreditfinanzierten und konsumgestützten Wachstums zu identifizieren. Die beispielsweise von McKinsey aufgezeigten Wachstumsstrategien sind bisher wenig überzeugend. Das exportgetriebene Wirtschaftsmodell Deutschlands erschwert strukturelle Anpassungen in Ost- und Mitteleuropa. Politische Zuspitzungen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien weisen auf ein Aushöhlen des europäischen Regelwerkes hin und die Notwendigkeit, EU-Regeln nicht nur formell einzuführen, sondern auch zu praktizieren und zu internalisieren.

Die Assoziierungs- und Freihandelsabkommen war der Versuch, mit begrenzten Ressourcen Resultate zu erreichen, die mit einer Vollmitgliedschaft vergleichbar sind. Den Weg zu Prosperität, Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sollen die Länder vorwiegend aus eigener Kraft finden. Das Angebot der EU umfasst neben Visaerleichterungen ein weitgehendes Freihandelsabkommen. Es ist bezeichnend, dass nur zwei fragile Länder, Georgien und Moldawien, die keinen vollständigen Zugriff auf ihr Staatsgebiet haben, dem Abkommen beitraten. Die politischen Gründe für eine Mitgliedschaft überwiegen, nicht zuletzt ist die Abhängigkeit von Transfers (30 % der arbeitsfähigen Bevölkerung und mehr als 30 % des BIP in Moldawien) und der Entwicklungshilfe groß und genießt höhere Priorität gegenüber der wenig wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Man muss nicht Kassandra sein, um eine sich verstärkende Abhängigkeit vom Westen im diametralen Gegensatz zu den ursprünglichen Intentionen und der Reformrhetorik vorherzusagen. 

Das gegenwärtige Kräfteparallelogramm
Außenminister Frank-Walter Steinmeier gibt bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt am 17. Dezember 2013 die folgende Einschätzung: "Sicher bin ich mir nur, dass wir ein finanzielles und wirtschaftliches Hilfsangebot präsentiert haben, das weit hinter dem zurückblieb, was notwendig ist, um die Ukraine vor dem wirtschaftlichen Konkurs zu bewahren und dauerhaft wirtschaftlich an Europa zu binden." Russland hat, wie die FAZ flapsig schreibt „die Braut Ukraine direkt vom Traualtar weg entführt“.

Das russische Angebot hat die Ukraine vorerst vor dem Staatsbankrott bewahrt. Allein die Preissenkungen für das Gas liegen im Milliardenbereich und tragen Prozentpunkte zum BIP bei. Da die Details nicht bekannt sind, ist unklar, wie Russland kalkuliert. Eine engere Bindung mit der Ukraine geht nur in Übereinstimmung mit ihren langfristigen wirtschaftlichen Interessen, nicht gegen sie. Allein, selbst in einem optimalen Szenario sind die wirtschaftlichen Vorteile der Zollunion für die Ukraine nicht garantiert. Ein Pyrrhussieg Russlands ist daher nicht ausgeschlossen

Die EU konnte ihr Gesicht wahren. Der ungünstigste Fall, eine kollabierende Ukraine mit 45 Millionen Einwohnern, wäre eine humanitäre Katastrophe und hätte den europäischen Konsolidierungsprozess belastet. Die Euromaiden - Protestbewegung verdeckt die strukturelle Schwäche des europäischen Angebots. Wenn sie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu ihren östlichen Nachbarn bringen will, dann muss sie die hohen Kosten in Form von Ressourcen und Zeit akzeptieren. Gegenwärtig ist die EU an seiner Peripherie dazu nicht bereit und damit wenig handlungsfähig. Es kann Entwicklungshilfe leisten, hat aber weder die finanzielle noch die konzeptionelle Kraft für strategische Initiativen. Die EU Konsolidierung setzt den Rahmen für die außenpolitische Gestaltungsfähigkeit. Auf den Prüfstein gehört, ob regelbasierten Instrumente und Methoden im internen Umgang auch für die Peripherie geeignet sind.

In der nahen Zukunft geht es um den Erhalt des Status Quo. Die Ukraine befindet sich weiterhin im Niemandsland, in einer Pattsituation zwischen der EU und Russland. Die EU bewegt sich aus der Strukturkrise, Russland auf sie zu. Die EU steht in der Verantwortung, institutionelle Innovationen zu entwickeln, die ein realistisches Wohlstandsversprechen für alle beteiligten Seiten ermöglichen und die politischen Reformzyklen berücksichtigen. Die bisherigen positiven wie negativen Erfahrungen des Partnerschaftsabkommens beschreiben einen Meilenstein einer steilen und noch langen Lernkurve.


























[1] Tiffin, A (2006), “Ukraine: The Cost of Weak Institutions.” IMF Working Paper WP/06/167.
[2] Berglöf, E and G Roland (1997), “The EU as an ‘Outside Anchor’ for Transition Reforms” in A Bigger and Better Europe? Final Report to the Swedish Government from the Committee on the Economic Effects of EU enlargement, Fritzes Stockholm, pp. 77-94.