Die Ukraine
im Niemandsland zwischen EU und Russland
Verschärft durch eine schwere Wirtschaftskrise und
einen drohenden Staatsbankrott begann am 21. November 2013 auf dem Euromaiden
in Kiew die größte Protestbewegung seit der Orangen Revolution. Die
Auseinandersetzung wird nicht selten als ein Ringen über den politischen Kurs
der Ukraine zwischen den Alternativen EU und Russland dargestellt. Nach dem
Aussetzen eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU erzeilte die
ukrainische Regierung ein Abkommen mit Russland, dass Investitionen in
ukrainische Staatsanleihen in Höhe von 15 Milliarden USD vorsieht und den Preis
für russisches Gas von 430 USD pro 1000 Kubikmeter Gas auf 268,5 USD senkt. Aber
der abrupte Meinungswechsel kann nur bedingt als eine strategische
Richtungsentscheidung interpretiert werden. Die folgende Analyse wirft einen
Blick auf die komplexen Paradoxien, Widersprüche und die Eigendynamiken im
Wechselverhältnis von Ukraine, Russland und der EU.
Die
Ukraine
Als noch junger Staat steht die Ukraine vor einer
doppelten historischen Herausforderung: Aufbau eines eigenen Staates und effektive
Integration in die internationale Arbeitsteilung.
Quelle
Quelle
Die Nationenbildung ist ein oft unterschätzter
Faktor, der in Europa mit einem hohen Blutzoll bis ins 20. Jahrhundert stattfand.
Versuche der internationalen Gemeinschaft die Nationenbildung in Staaten wie Afghanistan,
Jemen oder Somalia zu unterstützen, zeigten geringe Resultate. Jared Dimond
sieht in der unterschiedlichen Dauer von Staatlichkeit die wichtigste Ursache für Unterschiede im wirtschaftlichen
Entwicklungsniveau. Die Institutionen in der Ukraine sind notorisch schwach[1]
und verfügen über ein nur wenig belastbares Gleichgewicht zwischen Funktion und
Innovation. Die Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner für kohärentes Handeln
zu finden, betrifft die geographische Teilung genauso wie die politische
Polarisation, die Fragmentierung der Eliten oder die Dominanz von
Partikularinteressen. Nauro Campos sieht hier die eigentliche
Ursache für die politische Zuspitzung.
Nicht minder komplex ist der Aufbau einer modernen
Marktwirtschaft. Alle postsozialistischen Länder waren zu Beginn mit einem
institutionellen Vakuum konfrontiert und mussten viele Jahre in den Aufbau der Fundamente
ihre Wettbewerbsfähigkeit investieren bis sie wieder die Leistungskraft vom
Beginn des Reformprozesses erreichten. Im Unterschied zu anderen Ländern konnte
die Ukraine kein überzeugendes Modell der Integration in die Weltmärkte
identifizieren. Weder knüpfte sie erfolgreich an die Traditionen der Hanse an
wie der Baltikum, noch konnte sie bedeutende Investitionen für den Aufbau eines
Cluster von Informationstechnologien gewinnen wie Estland, oder profitierte vom
globalen Rohstoffboom wie Russland oder nahm am europäischen Einigungsprozess
teil wie die vier westlichen Nachbarn. An marktwirtschaftlichen Reformwillen fehlt
es der Ukraine oft nicht. Nach einer Aufholphase zu Beginn der Nullerjahre
sanken die Wachstumsraten. Im globalen Kontext verfügen die traditionelle
Stärken im Maschinenbau, der Schwerindustrie und der Erdölverarbeitung über
eine hohe Vulnerabilität gegenüber exogenen Schocks und ihre niedrige
Wertschöpfung erreicht keine kritische Größe für eine nachhaltige
Wachstumsdynamik aus. Heute entstehen allein 5,2 % des BIP (9,1 Mrd. USD) durch Transfers aus dem Ausland.
Die Dysfunktionalität der staatlichen
Institutionen und die Korruption im politischen System ist ein Hinweis, dass
Zugriff auf bestehende Cash Flows (rent-seeking) einen sicheren und risikoärmeren
Wohlstand verspricht als die Alternativen. Ungeachtet der häufigen und oft auch
demokratischen Machtwechsel seit der Unabhängigkeit reichen die Schätzungen zur Bereicherung der
Janukowitsch Familie von mehreren
Millionen Euro bis zu 10 Milliarden USD jährlich.
Vor diesem Hintergrund ist der IMF nicht bereit, weitere
Kredite ohne Bekämpfung der Korruption und die Kürzung von Subventionen zu
gewähren. Auch die EU sieht sich nicht in der Lage, sich in den geforderten
Dimensionen zu engagieren. „Wir
zahlen nicht“, sagt der französische Präsident Hollande.
Russland
Nach 1917 – 1991 schreibt Russland an einem
weiteren polit-ökonomischen Zyklus. Die Jelzin – Jahre waren eine Sturm-und-Drang
Zeit, deren wilde marktwirtschaftliche Experimente 1998 im Staatsbankrott
endeten. Mit der Machtübernahme Putins verbindet sich eine Renaissance der
russischen Staatlichkeit. Historisches Glück half bei der Stabilisierung. Ein globaler
Superzyklus bei Rohstoffen und Energieträgern finanzierte einen für die
russische Geschichte außergewöhnlichen Wirtschaftsboom. Russland verdreifachte innerhalb
von 15 Jahren sein BIP, verteilte soziale Wohltaten und erlebte mit
zweistelligen Zuwachsraten bei den verfügbaren Einkommen eine goldene Phase in seiner
Geschichte.
Wie auch in China im Jahre 1979 unter Deng
Xiaoping folgen die institutionellen Veränderungen nicht einer Folge, die
linear zur Ausweitung von Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit
führt, sondern einen spezifischen Eigenlogik. In Russland standen zur Abwägung die
Wohlstandssteigerung durch die Optimierung des Exports oder die Einleitung von
riskanten institutionellen Reformen in Richtung eines westlichen Gesellschaftsmodells.
Es setzte sich ein staatskapitalistisches Modell durch, eine Modernisierung und
Evolution der autoritären Regierungsform, die unmittelbar an bestehende
institutionelle Prägungen, Werte und Mentalitäten der vergangenen Planwirtschaft
anknüpft und unter neuen Bedingungen die Kontinuität mit der Vergangenheit
wahrt.
Der Preis für diesen vorerst so erfolgreichen
Entwicklungspfad ist hoch. Die Mechanismen der holländischen Krankheit und des
Ressourcenfluches beeinflussen die wirtschaftliche Logik. Sie verschieben die
Präferenzen zugunsten der risikoarmen Wertschöpfung aus Rohstoffförderung und
zuungunsten der aufwändigen, wenn auch nachhaltigen Wertschöpfung aus
Wettbewerbsfähigkeit. Die Abhängigkeit vom Energie- und Rohstoffsektor nahm zu,
marktwirtschaftliche und demokratische Reformen wurden eingefroren oder
rückgängig gemacht. Korruption und Rechtsunsicherheit weiteten sich aus. Seit
1990 beträgt die Kapitalflucht 800 Mrd. USD. Jährlich stimmen 300.000 meist gut ausgebildete Russen mit
den Füßen ab und verlassen das Land. Ein demokratisches Aufbegehren der urbanen
Mittelschichten im Dezember 2012 blieb Episode.
Als Folge erweist sich das Erschließen von neuen
Wachstumsfeldern als zunehmend schwierig. Staatlich initiierte Modernisierungen
entgegen der Export- und Rohstofforientierung erreichen nicht die angestrebten
Resultate. Dies betrifft auch die Modernisierungspartnerschaft mit Deutschland. Impulse
von den Weltmärkten bleiben aus, denn die Preise für Russlands Exportgüter
stagnieren oder sinken, nicht zuletzt durch Innovationen wie das
unkonventionelle Gas. Die Indizien mehren sich, dass der Höhepunkt des Putinschen
Geschäftsmodells überschritten ist. 2013 liegt das Wachstum unter 2 %. Die
Repressionen und Manipulationen der letzten Jahre sind Ausdruck der Fragilität
des bestehenden Gesellschaftsvertrages, nicht der Stärke des Staates. Das
gegenwärtige Russland nimmt Züge der Stagnation unter Brezhnew in den 1980-er
Jahren an. Nicht auszuschließen ist ein „Schwarzer Schwan“, ein plötzlicher
Umschwung der politischen Situation, der zur Implosion des scheinbar fest gefügten
Putinschen Systems führt. Es ist die vielleicht ausschlaggebende strukturelle
Schwäche von autoritären Regierungsformen gegenüber der Demokratie, dass ein unausweichlicher
Austausch von Eliten einen hohen Preis hat, der vorangegangene wirtschaftliche
Errungenschaften ganz oder teilweise konsumiert. Für die Ära Putin bedeutet
dies, dass erst mit seinem politischen Abgang der 1991 begonnene Reformzyklus endet
und das Tor zu einer neuen Welle an systemischen Reformen, zu einem neuen polit-ökonomischen
Zyklus geöffnet wird.
Außenpolitisch hat Russland wie England in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die realen Phantomschmerzen einer
vergangenen Supermacht. Missgriffe des Westens und seine geringe
wirtschaftliche Dynamik der letzten Jahre ermöglichten dessen ungeachtet beeindruckende Erfolge (Snowden, Syrien, Iran). Zwar kann Russland im Vergleich mit der EU der
Ukraine keine langfristig attraktive Zusammenarbeit anbieten, aber im
bestehenden politischen Koordinatensystem erweitert Russland seine Optionen und
sichert Einfluss. Das Abkommen konsolidiert das außenpolitische Umfeld und
verschiebt so das für Putin unkalkulierbare Risiko von Systemreformen.
Die
Europäische Union
Die Europäische Union durchläuft gegenwärtig die
größte Restrukturierungsphase seit ihrer Gründung. Der Höhepunkt der Krise scheint
überschritten, auch wenn ein Auseinanderfallen der Eurozone noch nicht
vollständig ausgeschlossen ist. Die Suche nach einem stabilen institutionellen Gleichgewicht,
das die erheblichen Leistungsunterschiede souveräner Staaten effektiv
ausgleicht, hat einen Höhepunkt erreicht. Einige Innovationen wie der „Offene
Dialog“ oder der Stabilitätspakt sind vom Tisch, andere, wie das Überwachen der
Haushalte oder die Bankenunion, befinden sich in der Design- und Experimentierphase.
Vom Optimismus einer Lissabonner Agenda, als Europa im Jahre 2003 sich das Ziel
stellte, zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt aufzusteigen, ist man weit
entfernt.
Vor 2008 war ein EU-Beitritt für die Staaten Ost-
und Mitteleuropas die Schnellstraße zur Integration in den weltweit größten
Wirtschaftsraum und der Teilhabe an Demokratie und Wohlstand. Er wirkte als
institutioneller Anker[2].
In der Tat erzielten die neuen EU-Mitgliedsländer höhere Wachstumsraten als der
EU-Durchschnitt, nicht zuletzt aufgrund von umfangreichen Transfer- und
Unterstützungsleistungen. Mit der Krise 2008 änderte sich das Bild, die EU Kernländern
sind seither wirtschaftlich erfolgreicher als die Peripherie. Die
Beitrittsländer aus Ost- und Mitteleuropa stehen vor der Herausforderung, neue Treiber
jenseits des bisherigen kreditfinanzierten und konsumgestützten Wachstums zu identifizieren.
Die beispielsweise von McKinsey aufgezeigten Wachstumsstrategien sind bisher
wenig überzeugend. Das exportgetriebene Wirtschaftsmodell Deutschlands erschwert strukturelle Anpassungen in Ost- und Mitteleuropa. Politische Zuspitzungen in Ungarn, Rumänien und Bulgarien weisen auf ein Aushöhlen
des europäischen Regelwerkes hin und die Notwendigkeit, EU-Regeln nicht nur
formell einzuführen, sondern auch zu praktizieren und zu internalisieren.
Die Assoziierungs- und Freihandelsabkommen war der
Versuch, mit begrenzten Ressourcen Resultate zu erreichen, die mit einer
Vollmitgliedschaft vergleichbar sind. Den Weg zu Prosperität, Marktwirtschaft,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sollen die Länder vorwiegend aus eigener
Kraft finden. Das Angebot der EU umfasst neben Visaerleichterungen ein weitgehendes
Freihandelsabkommen. Es ist bezeichnend, dass nur zwei fragile Länder, Georgien
und Moldawien, die keinen vollständigen Zugriff auf ihr Staatsgebiet haben, dem
Abkommen beitraten. Die politischen Gründe für eine Mitgliedschaft überwiegen, nicht zuletzt ist die Abhängigkeit von Transfers (30 % der
arbeitsfähigen Bevölkerung und mehr als 30 % des BIP in Moldawien) und der Entwicklungshilfe groß und genießt höhere Priorität gegenüber der
wenig wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Man muss nicht Kassandra sein, um eine
sich verstärkende Abhängigkeit vom Westen im diametralen Gegensatz zu den ursprünglichen
Intentionen und der Reformrhetorik vorherzusagen.
Das
gegenwärtige Kräfteparallelogramm
Außenminister Frank-Walter
Steinmeier gibt bei der Amtsübergabe im Auswärtigen Amt am 17. Dezember 2013 die folgende Einschätzung: "Sicher bin ich mir nur, dass wir ein finanzielles und
wirtschaftliches Hilfsangebot präsentiert haben, das weit hinter dem
zurückblieb, was notwendig ist, um die Ukraine vor dem wirtschaftlichen Konkurs
zu bewahren und dauerhaft wirtschaftlich an Europa zu binden." Russland hat, wie die FAZ flapsig schreibt „die
Braut Ukraine direkt vom Traualtar weg entführt“.
Das russische Angebot hat die Ukraine vorerst vor
dem Staatsbankrott bewahrt. Allein die Preissenkungen für das
Gas liegen im Milliardenbereich und tragen Prozentpunkte zum BIP bei. Da die Details nicht bekannt sind, ist unklar, wie Russland kalkuliert.
Eine engere Bindung mit der Ukraine geht nur in Übereinstimmung mit ihren langfristigen
wirtschaftlichen Interessen, nicht gegen sie. Allein, selbst in einem optimalen
Szenario sind die wirtschaftlichen Vorteile der Zollunion für die Ukraine nicht garantiert. Ein Pyrrhussieg Russlands ist daher nicht
ausgeschlossen
Die EU konnte ihr Gesicht wahren. Der ungünstigste
Fall, eine kollabierende Ukraine mit 45 Millionen Einwohnern, wäre eine
humanitäre Katastrophe und hätte den europäischen Konsolidierungsprozess
belastet. Die Euromaiden - Protestbewegung verdeckt die strukturelle Schwäche
des europäischen Angebots. Wenn sie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Wettbewerbsfähigkeit zu ihren östlichen Nachbarn bringen will, dann muss sie die hohen Kosten in Form von Ressourcen und Zeit akzeptieren. Gegenwärtig ist die EU an seiner Peripherie dazu nicht bereit und damit wenig
handlungsfähig. Es kann Entwicklungshilfe leisten, hat aber weder die
finanzielle noch die konzeptionelle Kraft für strategische Initiativen. Die EU Konsolidierung
setzt den Rahmen für die außenpolitische Gestaltungsfähigkeit. Auf den
Prüfstein gehört, ob regelbasierten Instrumente und Methoden im internen Umgang
auch für die Peripherie geeignet sind.
In der nahen Zukunft geht es um den Erhalt des
Status Quo. Die Ukraine befindet sich weiterhin im Niemandsland, in einer
Pattsituation zwischen der EU und Russland. Die EU bewegt sich aus der
Strukturkrise, Russland auf sie zu. Die EU steht in der Verantwortung, institutionelle
Innovationen zu entwickeln, die ein realistisches Wohlstandsversprechen für
alle beteiligten Seiten ermöglichen und die politischen Reformzyklen
berücksichtigen. Die bisherigen positiven wie negativen Erfahrungen des
Partnerschaftsabkommens beschreiben einen Meilenstein einer steilen und noch langen
Lernkurve.
[2] Berglöf, E and G Roland (1997), “The EU as an ‘Outside Anchor’ for
Transition Reforms” in A Bigger and Better Europe? Final Report to the Swedish
Government from the Committee on the Economic Effects of EU enlargement,
Fritzes Stockholm, pp. 77-94.